Der Impfpass: Verfassungsrechtlich unproblematisch – und sogar geboten

Impfpass

von Alexander Stremitzer, Kevin Cope und Emanuel V. Towfigh

In der politischen und gesellschaftlichen Debatte wird zurzeit leidenschaftlich und vehement darüber gestritten, ob Geimpfte sich freier bewegen dürfen sollen als Ungeimpfte.

Die Gegner eines Impfpasses, auch «Grüner Pass» genannt, der Geimpften Erleichterungen wie zum Beispiel eine erhöhte Reisefreiheit gewährt, messen zwei Argumenten besonderes Gewicht bei: Erstens dürfe man aus rechtlichen und ethischen Gründen Geimpfte nicht bevorzugen – Ungleichbehandlungen dieser Art seien gleichheitswidrig und unethisch, sie trieben einen Keil in die Gesellschaft. Zweitens sei wissenschaftlich nicht hinreichend klar, ob Geimpfte weniger infektiös seien, schon aus diesem Grund verbiete sich nach dem Vorsichtsprinzip eine Bevorzugung.

Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt

Diese Argumente verfangen rechtlich nicht, und sie überzeugen auch ethisch nicht. Rechtlich verfangen sie nicht, weil es sich nicht um ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen handelt – für die Unterscheidung zwischen Geimpften und Ungeimpften gibt es einen guten sachlichen Grund: die Impfung. Dabei ist unerheblich, ob alle Impfwilligen die gleiche Chance haben oder hatten, geimpft zu werden. Das Leben enthält viel fundamentalere Ungleichheiten bereit, an die wir ohne Weiteres und bisweilen durchaus fragwürdig verfassungsrechtlich gerechtfertigte Unterscheidungen anzuknüpfen bereit sind – etwa die Staatsangehörigkeit eines wohlhabenden Landes, eine robuste gesundheitliche Konstitution oder jugendliches Alter.

Grundsätzlich ist der Staat in unseren Verfassungstraditionen verpflichtet, Grund- und Verfassungsrechte zu gewährleisten und zu schützen. Eingriffe und Beschränkungen sind möglich, aber sie sind begründungsbedürftig. Die Freiheitseingriffe, die wir nunmehr seit über einem Jahr hinnehmen müssen, rechtfertigen sich aus der Gefahr des Virus, seiner rasanten Verbreitung und dem damit einhergehenden Risiko der Überlastung des Gesundheitssystems.

Geimpfte sind weder gefährdet noch Gefährder

Daten aus Israel und aus den USA legen aber nahe, dass die Impfungen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Erkrankung der Geimpften verhindern und ebenso mit grosser Wahrscheinlichkeit die Weitergabe des Virus – eine Analyse, der sich letzte Woche auch das deutsche Robert-Koch-Institut angeschlossen hat. Damit – und das ist ja gerade der Sinn der Impfung – fallen Geimpfte aus dem Pool der Gefährdeten und der Gefährdenden heraus. Sie gewähren als Teil einer wachsenden Geimpften-Herde potenziell auch jenen Schutz, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können oder aus ideologischen Gründen nicht impfen lassen wollen – eine Entscheidung, die freiheitsrechtlich grundsätzlich ebenfalls Schutz geniesst. Damit aber entfällt jeder Grund für eine weitere Grundrechtseinschränkung für Geimpfte.

Dieser Nachweis ist praktisch nicht zu erbringen und stellt eine gefährliche Umkehrung dar: Aus gutem Grund muss zur Ausübung der Grundrechte nicht der Bürger oder die Bürgerin die eigene Ungefährlichkeit nachweisen. Der Rechtfertigungsdruck liegt vielmehr auf der Seite des Staates, der diese Rechte einschränken will. Für eine solche Einschränkung bei Geimpften fehlen nach derzeitigem wissenschaftlichen Stand schlicht die plausiblen Argumente.

Übrig bleibt das Neid-Argument

Ist erst einmal der Herdenschutz eingetreten, sind wir also alle unabhängig von unserem Impfstatus geschützt, und ist unser Gesundheitssystem wieder sicher, dann entfallen die Grundrechtseinschränkungen auch für alle – und der Impfpass verliert seine Bedeutung. Dass die «Befreiung durch Impfung» bei dem knappen Gut Impfstoff nicht allen gleichzeitig zuteilwird, sondern eben nacheinander, ist eine Banalität, die wir an anderen Stellen im Leben überhaupt nicht mehr bemerken: Soll beim Aufbau eines Breitband-Internetnetzes das Internet etwa ernsthaft erst dann eingeschaltet werden dürfen, wenn das Netz auch im gesamten ländlichen Raum fertiggestellt ist? Solange die Impf-Priorisierung sachlichen Erwägungen folgt und nicht willkürlich ist, ist es irrelevant, dass manche früher wieder ihre grundrechtlichen Freiheiten wiedergewinnen.

Was übrig bleibt, ist ein sublimiertes Neid-Argument. Zu dessen Enttarnung hält die Rechtsethik ein Gedankenexperiment des Ökonomie-Nobelpreisträgers John Harsanyi und des Rechtsphilosophen John Rawls bereit, den sogenannten Schleier des Nichtwissens: Wie würden wir entscheiden, wenn wir nicht wüssten, in welche gesellschaftliche Rolle wir geboren würden – Impfbefürworter oder Impfgegner, Geimpfte oder Ungeimpfte. Es steht wohl fest, dass wir ohne subjektive Färbung einig wären: Wer immer in den Genuss einer Impfung gekommen ist, soll nicht länger den Grundrechtsbeschränkungen ausgeliefert sein.

Freuen wir uns mit allen Geimpften, dass wenigstens sie wieder zunehmend ihre Freiheiten geniessen dürfen und dem Virus ein Stück Hoheit über ihr Leben entreissen können. Der grüne Impfpass mit seinen Erleichterungen für Geimpfte kann uns insofern – wie etwa die Bilder aus Israel – fröhlich machen, Hoffnung geben und Aufatmen lassen. Wir sollten in solche Zustände auch hier hineinwachsen.

Alexander Stremitzer ist Professor an der ETH Zürich, Kevin Cope ist Professor an der University of Virginia, und Emanuel V. Towfigh ist Professor an der EBS Universität in Wiesbaden.

Veröffentlicht auf dem Zukunftsblog der ETH Zürich.