Rezension zu Stefan Schlegel, Der Entscheid über Migration als Verfügungsrecht. Eine Anwendung der ökonomischen Analyse des Rechts auf das Migrationsrecht am Beispiel der Schweiz

Rezension zu

Stefan Schlegel, Der Entscheid über Migration als Verfügungsrecht. Eine Anwendung der ökonomischen Analyse des Rechts auf das Migrationsrecht am Beispiel der Schweiz, Tübingen 2017 (Mohr Siebeck), 375 Seiten

in: Die Verwaltung Bd. 51 (2019), Heft 4, S. 602-605 (PDF)


Wenn wir aber die liberale Position einnehmen, dass eines jeden Menschen Wohl gleichermaßen schwer wiegt, dann ist die Idee, dass es für die Lebensaussichten eines Menschen maßgeblich auf die Gnade der Herkunft ankommen soll, nur schwer zu verteidigen […]. In letzter Konsequenz können wir der großen Idee der Gleichheit aller Menschen […] nur dann gerecht werden, wenn wir jeden Menschen als Teil einer umfassenden Schicksalsgemeinschaft begreifen. Das bedeutet nicht, dass wir unversehens alle Grenzen niederreißen müssen; doch die Einsicht, dass die Idee von Grenzen in enger Verbindung mit einer fundamentalen Ungerechtigkeit steht, die wir auszublenden gelernt haben, verpflichtet uns, in allen gesellschaftlichen Feldern […] darauf hinzuarbeiten, die Ungerechtigkeit entschieden(er) abzubauen.


Das anzuzeigende Werk entstand 2016 als Dissertation unter der Ägide von Alberto Achermann an der Universität Bern. Die Arbeit widmet sich einem der drängendsten weltpolitischen Themen unserer Zeit: der Steuerung von Migration. Sie bedient sich des Instrumentariums der ökonomischen Analyse des Rechts (insbesondere des Verfügungsrechteansatzes), um zu untersuchen, auf welche Art und Weise (Arbeits-)Migration aus theoretischer Sicht geregelt werden kann — und um zu beurteilen, welches Rechtsregime zur Regulierung von Migration aus Effizienz- und verschiedenen Gerechtigkeitserwägungen, also normativ, am besten geeignet ist. Als Referenz dient das Schweizer Migrationsrecht, wobei die Einsichten, die das Werk vermittelt, ohne Weiteres über die Schweiz hinaus verallgemeinerungsfähig sind. Die Arbeit betritt sowohl für das Migrationsrecht als auch für die Rechtsökonomik Neuland. Und um es vorweg zu nehmen: Es handelt sich um ein innovatives Werk, dessen Lektüre Migrationsrechtlern wie Rechtsökonomen, aber viel breiter auch gesellschaftspolitisch interessierten oder methodisch neugierigen Lesern nur wärmstens ans Herz gelegt werden kann. Auf gut genutzten 346 Seiten vermittelt die Arbeit einen frischen Blick auf ein großes Thema unserer Zeit, und regt mit durch einen gleichermaßen ungewohnten wie gut erklärten Zugriff begründeten, unerwarteten Einsichten zum weiteren Nachdenken an. Nach der Lektüre stellt sich das befriedigende Gefühl ein, die Zeit sinnvoll eingesetzt zu haben und klüger geworden zu sein.

Die Arbeit beginnt mit einer Disposition, die die Forschungsfrage präzise formuliert (S. 5 ff.): Begreift man Migration als wirtschaftlich werthaltiges Gut, das die Rechtsordnung einem Verfügungsberechtigten zuordnen („primäre Entscheidung“) und für das sie die Transferregeln festlegen („sekundäre Entscheidung“) kann, ist das Migrationsrecht dann so ausgestaltet, dass gesamtgesellschaftliche Effizienz maximiert wird?

Kapitel 1 widmet sich der Methode. Es führt in die grundlegenden Topoi der rechtsökonomischen Theorie ein und beleuchtet eingehend den Verfügungsrechteansatz. Für das Verständnis dieser Besprechung soll genügen zu erwähnen, dass Verfügungsrechte bestimmten Berechtigten zugeordnet werden (Allokation), dass diese Berechtigten daraufhin die Möglichkeit haben, Eingriffe in das Verfügungsrecht abzuwehren, sich für die Verweigerung des Rechts entschädigen zu lassen, oder — je nach rechtlicher Ausgestaltung — das Verfügungsrecht zu übertragen (Transaktion); ferner, dass ein Gesichtspunkt für die normative Beurteilung eines Migrationsrechts ist, welche Wohlfahrtseffekte es hat. Eine weitere Annahme macht der Verfasser nicht explizit, sie bildet aber gleichsam das unausgesprochene Fundament für die Arbeit (und liegt der ökonomischen Analyse des Rechts wie wohl allen liberalen Gesellschaftsanschauungen zugrunde): dass nämlich die Wohlfahrt eines jeden Menschen gleich viel Wert ist. Das wird im Verlaufe der Arbeit deshalb relevant, weil Schlegel zeigt, dass gewisse Allokationen oder Transaktionen sich nur rechtfertigen lassen, wenn man die Wohlfahrt der Migrierenden (anders als etwa die der Bewohner des Heimat- oder Zielstaats) unberücksichtigt lässt.

Das zweite Kapitel legt die Grundlagen für die Anwendung der Theorie der Verfügungsrechte im Bereich des Migrationsrechts. Hier werden verschiedene Möglichkeiten eruiert, „Migration“ als Rechte-Bündel zu konstruieren. Gleichzeitig werden die Güter, zu denen Migration Zugang verschafft, und die letztlich unter Effizienz- oder anderen Gerechtigkeitserwägungen (S. 121 ff.) in die ökonomische Relation einzustellen sind, rekonstruiert: Zugang zum Arbeitsmarkt (S. 96 ff.), politische Institutionen (S. 101 f.), natürliche (Umwelt-) und kulturelle Ressourcen (Infrastruktur und Wohnraum, S. 102 f.), soziale Sicherungsmechanismen wie Sozialversicherung (S. 103 f.) und Sozialtransfers (S. 105) sowie schließlich die schwer greifbare (aber gerade in der öffentlichen Debatte prominent diskutierte) „kulturelle Identität“ (S. 106 ff.), die auch Schlegel kaum zu fassen bekommt, und die wohl am besten als generalisiertes Vertrauen aufgrund tradierter sozialer Normen („Gepflogenheiten“, S. 106) zu beschreiben ist. An diese Darlegung schließt sich eine zentrale Grundüberlegung des Buches an — dass nämlich bei systematischer Betrachtung drei Akteure in Frage kommen, denen das Migrationsrechtebündel originär zugewiesen werden kann: dem Zielstaat, dem Herkunftsstaat und den (potenziellen) Migrierenden. Eine instruktive Übersicht, was diese originäre bzw. primäre Zuordnung für die sekundäre Dimension (Abwehrrecht, Entschädigungsregelung, Unübertragbarkeitsregel) jeweils bedeutet, findet sich auf S. 117. Das Kapitel schließt mit — für spätere Effizienzerwägungen wichtige — Überlegungen zur Auswirkung der jeweiligen Allokation des Rechtebündels auf Transaktionskosten (S. 128 ff.).

Kapitel 3 stellt ein „Gedankenexperiment“ vor und dekliniert — vornehmlich aus einer Effizienzperspektive — durch, wie nach den im zweiten Kapitel rekonstruierten Bedingungen eines Migrations-Rechtebündels ein optimales Rechtsregime abstrakt aussähe. Für die primäre Entscheidung, die originäre Allokation des Rechtebündels (also den „Anfangszustand“, S. 144), knüpft Schlegel einerseits an den Harsanyi-Rawls’schen „Schleier des Nichtwissens“ an, und entwickelt andererseits Analogien zu anderen Rechtebündeln (Grundeigentum, persönliche Freiheitsrechte). Er kommt zu dem ebenso gut begründeten wie intuitiv einleuchtenden normativen Ergebnis, dass das Migrations-Rechtebündel abstrakt und idealiter den potenziellen Migrierenden zuzusprechen ist (S. 167). Im Hinblick auf die sekundäre Entscheidung (also die späteren Transaktionsregeln) soll das Migrationsrecht allein ein Entschädigungsrecht beinhalten, „sodass Migrierenden gegen ihren Willen und zu einem Preis, der durch eine möglichst unabhängige Institution festgelegt würde, das Verfügungsrecht durch den Zielstaat entzogen werden könnte“ (S. 171).

In Kapitel 4 untersucht die Arbeit die praktischen Implikationen des Gedankenexperiments aus Kapitel 3 und bietet einen vergleichenden Überblick über die verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten der Allokations- und Transaktionsentscheidung in der Praxis. Dabei untersucht Schlegel das Migrationsrechtebündel jeweils in einer Ausgestaltungsvariante als Verfügungsrecht mit Abwehr-, Entschädigungs- und Unübertragbarkeitsregel, und zwar jeweils in den Händen des Herkunfts- bzw. des Zielstaates und der potenziell Migrierenden, wobei er insbesondere die Durchsetzungskosten für das jeweilige Regelungsregime in den Blick nimmt. Im Ergebnis werden dabei eine Reihe von Vor- (insbesondere von Entschädigungsregeln) und Nachteilen sichtbar (Abwehr- und Unübertragbarkeitsregeln sind unvorteilhaft, ebenso die Allokation des Rechtebündels beim Herkunftsstaat), die — jenseits politischer Praktikabilität, wie der Autor einräumt — nahelegen, dass das normative Ergebnis des Gedankenexperiments (nämlich das Migrationsrecht als Verfügungsrecht potenziell Migrierender mit Entschädigungsregel auszugestalten) auch praktischeren rechtsökonomischen Erwägungen standhält (S. 239 ff.).

Kapitel 5 wendet sich dem geltenden Schweizer Migrationsrecht zu und rekonstruiert dieses knapp vor der Folie des rechtsökonomischen Migrationsrechteansatzes. Der Autor zeigt auf, inwiefern Figuren des Schweizer Migrationsrechts mithilfe eines rechtsökonomischen Ansatzes erklärt, bewertet, kritisiert werden können. Dabei ist erstaunlich, im welchem Maße sich geltendes Recht mit den in der Arbeit entwickelten Überlegungen erklären lässt, und wie sich anhand des Verfügungsrechteansatzes als „Auslegeordnung“ auch weitere Entwicklungsmöglichkeiten ableiten bzw. vorzeichnen lassen (S. 302 ff).

Kapitel 6 systematisiert die Ergebnisse der Arbeit, wobei den Schlussfolgerungen durchaus eigenständige Bedeutung zukommt, die über die in den vorangegangenen Kapiteln formulierten Ergebnisse hinausgeht. Schlegel gruppiert seine Einsichten in drei Kategorien: Erstens legten seine Überlegungen nahe, dass das Migrationsrecht fundamental umgestellt werden solle, nämlich dahingehend, dass die Allokation des Verfügungsrechts über Migration bei den potenziellen Migrierenden erfolgen solle; zweitens solle das Verfügungsrecht über Migration übertragbar sein, d.h. Transaktionen sollten grundsätzlich zulässig sein und Transaktionskosten gesenkt werden; und drittens sollten — auch ohne, dass die Vorschläge der ersten beiden Kategorien umgesetzt würden — im geltenden Migrationsrecht negative externe Effekte der vorherrschenden Migrationspolitik stärker in den Blick genommen und korrigiert werden. Hinsichtlich der Schlussfolgerungen aus den ersten beiden Kategorien merkt der Autor zu Recht an, dass sie nur dann ein gangbarer Weg seien, wenn es international „eine gewisse kritische Masse an Staaten“ (S. 321) gebe, die diesen beschritten — was darauf hindeutet, dass es sich beim Migrationsrecht (wie bei einer wachsenden Zahl von Rechtsgebieten vom Umwelt- bis zum Steuerrecht) um eine Regelungsmaterie handelt, die einzelne Nationalstaaten nicht (mehr) allein bewältigen können.

Das Werk verdeutlicht aus rechtsökonomischer Perspektive, wie stark konstruiert die Idee von Grenzen ist, dass diese Idee gleichwohl sehr drastische Wirkungen aufweist — nicht zuletzt, weil Menschen im Mittelmeer und andernorts an genau dieser sterben. Damit unterstreicht die Abhandlung (anhand in diesem Zusammenhang ethisch zurückgenommener utilitaristischer Effizienzerwägungen), was andere in der einschlägigen Literatur aus anderen Blickwinkeln gezeigt haben: dass Grenzen nur deshalb notwendig sind, weil es ein dramatisches Wohlfahrtsgefälle gibt — wenn natürliche und kulturelle Ressourcen, Governance und Institutionen, Freiheit und Sicherheit oder kurzum: individuelle und gesellschaftliche Chancen, global gleichmäßig verteilt wären, gäbe es keinen Grund für systematische Migration in eine bestimmte Richtung (vgl. z.B. Carens’ Werk, etwa: Aliens and Citizens. The Case for Open Borders, Review of Politics 1987, 251 ff.). Wenn wir aber die liberale Position einnehmen, dass eines jeden Menschen Wohl gleichermaßen schwer wiegt, dann ist die Idee, dass es für die Lebensaussichten eines Menschen maßgeblich auf die Gnade der Herkunft ankommen soll, nur schwer zu verteidigen (vgl. Shachar, The Birthright Lottery. Citizenship and Global Inequality, 2009). In letzter Konsequenz können wir der großen Idee der Gleichheit aller Menschen, wie sie in zahllosen, für unsere objektive Wertordnung konstitutiven (Rechts-)Dokumenten nicht nur als Programmsatz postuliert, sondern als Menschenrecht verfügt wird, nur dann gerecht werden, wenn wir jeden Menschen als Teil einer umfassenden Schicksalsgemeinschaft begreifen. Das bedeutet nicht, dass wir unversehens alle Grenzen niederreißen müssen; doch die Einsicht, dass die Idee von Grenzen in enger Verbindung mit einer fundamentalen Ungerechtigkeit steht, die wir auszublenden gelernt haben, verpflichtet uns, in allen gesellschaftlichen Feldern — in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Politik usw. — darauf hinzuarbeiten, die Ungerechtigkeit entschieden(er) abzubauen.

Zum Schluss bleibt dem Rezensenten nur anzuregen, dass in der zweiten Auflage — die dem Werk sehr zu wünschen ist — die zahlreichen Fehler (vor allem in den ersten Kapiteln), die eine gründliche Schlussredaktion hätte vermeiden können und die das Lesevergnügen jedenfalls des Pedanten spürbar schmälern, ausgemerzt werden, und dass dem Buch vielleicht eine „Zusammenfassung in Leitsätzen“ angefügt werden könnte, die es dem Leser vereinfachen würde, die Struktur des Buches besser zu durchdringen und die es bei späteren Rückgriffen auch erlaubte, direkter zu bestimmten Inhalten zu finden und zwischen verschiedenen (Unter-)Kapiteln hin- und herzuwandern.

Emanuel V. Towfigh, Wiesbaden